
© NHM Wien
Wo heute Wien liegt, erstreckte sich vor rund 18 Millionen Jahren ein Meer, das unsere Landschaft bis heute prägt. Höhepunkte der geologischen Geschichte sind Seekühe, die im heutigen Ottakring grasten, oder der berühmte Atzgersdorfer Stein, der als Baumaterial für viele Wiener Gebäude diente, darunter das Natur- und das Kunsthistorische Museum.
Die Steine, mit denen Wien erbaut wurde, und die Fossilien, die wir finden, erzählen von einer Zeit, als das Stadtgebiet noch von Wasser bedeckt war. Hier lag vor 14 Millionen Jahren ein tropisches Meer mit Delfinen, Robben und riesigen Muschelbänken. Die Spuren dieser urzeitlichen Welt reichen bis heute. Die Publikation „Wien am Sand“ zeigt, wie viel Urmeer noch in der Großstadt steckt. Mathias Harzhauser und Thomas Hofmann – beide Geologen und Paläontologen mit langjähriger Erfahrung – haben in ihrem Buch „Wien am Sand“ diese Geschichte des Wiener Untergrunds zusammengetragen. Auf Grundlage eines Forschungsprojekts der Österreichischen Akademie der Wissenschaften analysierten sie rund 23.000 Fossilien von mehr als 230 Fundstellen – und verknüpften dabei naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit kulturhistorischen Entwicklungen.

Heute kaum vorstellbar: Vor 14 Millionen Jahren bedeckte ein tropisches Meer große Teile des Wiener Umlands. © NHM Wien, M. Harzhauser
So war Wien vor rund 14 bis 18 Millionen Jahren kein Ort zum Wandern oder Bauen, sondern ein Meeresboden. Damals reichte ein tropisches Meer von der heutigen Alpenregion bis ins Wiener Becken. Die Spuren davon lassen sich noch heute an zahlreichen Stellen in der Stadt nachweisen, zum Beispiel durch den sogenannten Atzgersdorfer Stein. Dieser hellgelbe Kalkstein, der aus Milliarden fossiler Schneckenschalen besteht, wurde vor rund 12 Millionen Jahren in ruhigen Meeresbuchten abgelagert – und diente später als günstiger Baustoff. Heute findet man ihn unter anderem im Naturhistorischen Museum, im Kunsthistorischen Museum und in den Fundamenten zahlreicher Ringstraßenbauten.
Geologische Geschichten: Von Liesing bis Nussdorf
Die geologische Vergangenheit Wiens lässt sich besonders eindrucksvoll auf Bezirksebene nachvollziehen – jede Region erzählt ihre eigene Geschichte. Liesing (23. Bezirk) ist ein Paradebeispiel für geologischen Facettenreichtum: In Kalksburg prallte vor etwa 14 Millionen Jahren die Brandung eines tropischen Meeres gegen steile Küsten aus Kalkstein, gesäumt von urzeitlichen Kiefernwäldern. Dieses Gestein war später so stabil, dass es die Römer für ihre Aquädukte nutzten. Weiter südlich bildeten der Wienerberg (10. Bezirk) und der Laaer Berg bis ins 20. Jahrhundert das Zentrum der Wiener Ziegelproduktion. Ausgedehnte Tongruben lieferten hier den Rohstoff für Millionen von Backsteinen – unter anderem für das Arsenal oder die Rossauer Kaserne.

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Im Westen der Stadt begegnet man ebenfalls Zeugnissen des ehemaligen Meeres: In Ottakring (16. Bezirk) lebten einst Seekühe – friedliche, pflanzenfressende Meeressäuger mit besonders dicken Rippenknochen, von denen heute noch viele im Naturhistorischen Museum erhalten sind. Nur der Schädel fehlt bis heute.
Robben in Hernals, Beachtime in Währing
Auch Hernals (17. Bezirk) birgt eine maritime Vergangenheit: Fossilien belegen, dass dort Robben lebten – vermutlich in großer Zahl, denn ihre Knochenreste wurden an mehreren Fundstellen entdeckt. In den gleichen Sedimentschichten fanden sich auch Zähne von Haien, darunter Exemplare des Megalodon, eines ausgestorbenen Riesenhais, der bis zu 20 Meter lang werden konnte. Ein besonders anschauliches Bild vermittelt Pötzleinsdorf in Währing (18. Bezirk), wo sich vor 14 Millionen Jahren ein flacher Sandstrand erstreckte – während das benachbarte Grinzing (19. Bezirk) damals noch unter dem Meeresspiegel lag.
Und wer heute in Nussdorf einen Spaziergang unternimmt, kann entlang der Eichelhofstraße eine gut erhaltene fossile Brandungszone entdecken. Das dortige Gestein zeigt noch immer die Strukturen von damals – als hätte sich das Meer erst gestern zurückgezogen.
Mehr als reine Wissenschaft
Für Mathias Harzhauser, Direktor der geologisch-paläontologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums, ist diese Arbeit mehr als reine Wissenschaft. Es geht ihm darum, „verschwundene Lebensräume sichtbar zu machen – besonders, wenn sie direkt das eigene Wohnumfeld betreffen.“ Sein Kollege Thomas Hofmann ergänzt: „Wien ist in gewisser Weise das Maß (fast) aller Dinge.“ Die Erforschung dieser Standorte erfolgte gemeinsam mit Geosphere Austria. Mittels alter Pläne, Originalpublikationen und moderner Kartierung wurden ehemalige Gruben und Aufschlüsse lokalisiert. Die Zusammensetzung der Fossilien ließ Rückschlüsse auf die jeweiligen Lebensräume zu.
Rohstoffe als Fundament der Stadt
Neben den fossilen Resten interessierte sich das Projektteam besonders für die Rohstoffe, die aus diesen Gesteinsschichten stammen. Heute weitgehend vergessen, bildeten Sand, Kies, Ton und Naturstein über Jahrhunderte hinweg die Grundlage für den Wiener Wohn- und Industriebau. Dass Wien so aussieht, wie es aussieht, liegt zu einem großen Teil daran, dass man auf die Rohstoffe vor Ort zurückgreifen konnte. Bis ins frühe 20. Jahrhundert gab es in Wien hunderte Steinbrüche, Sand- und Tongruben – viele davon inzwischen überbaut oder renaturiert.
Die Landeshauptstadt profitiert heute von den nahegelegenen Gewinnungsstätten in Niederösterreich, die Baurohstoffe liefern. Wien wäre ohne seine geologische Vergangenheit kaum denkbar. Sand, Ton, Kies und Kalkstein sind nicht nur bis heute begehrte Rohstoffe, sondern auch Zeitkapseln, die spannende Einblicke in die Erdgeschichte liefern.